Vorveredelung des Tages

Der Freund und ich stehen vor dem Tresen des Heißgetränkeoutlets am Hauptbahnhof. Es ist kurz nach sieben und wir sehen zerknautscht und mimisch unförmig aus, zudem befinden wir uns an einem Ort dem Wärme fehlt.

Sie: „Guten Morgen, Sie wünschen?
Ich: „Morgen. Bitte einen großen Caffè Latte zum mitnehmen.“
Sie: „Gerne. Und für Sie?“
Er: „Dasselbe, aber als Cappuccino.“
Sie: „Gerne. Geht das zusammen?“
Ich: „Getrennte Becher bitte,“

Matt lächelnd stehen wir zu viert um den Tresen, ein Mann hinter uns behält ein freundlich müdes Grinsen am längsten im Gesicht. Seinen Augen sind noch halbgeschlossen, die Ohren dagegen weit offen. So scheint er sich auch bis zum Bahnhof orientiert zu haben. Ich trage die schwappende Ladung die Treppe hoch. Wenn das Wetter zu unwirtlich ist, begeben wir uns auf die ausladenden Sitze im ersten Stock und blicken auf den Bahnhofsvorplatz herab. Dunst und Nebel wirken sich meist sehr dekorativ in dieser Stadt aus.

Fallen unsere Treffen in sommerlichere Zeiten, dann sitzen wir gerne vor der Eingangshalle und betrachten die Szenerie. Dazu gehört in der Regel immer ein Gehwegreinigungsgefährt mit städtischem Amokfahrer. Die Kehrmaschine scheint in einem früheren Leben als Vergnügungssklave auf einem Autoscooter ihr Leben gefristet zu haben. Die wiedergewonnene Freiheit haben ihre Lebensgeister mobilisiert, besonders beim Versuch anderen ebensolche auszulöschen. Die Passanten purzeln wie Bowlingpinne hin, wenn die Abräumleiste über die Bahn wischt. So hoch die Emotionen bei den Weggewischten schäumen, so seelenlos unbeteiligt bleibt der Zombie in Warnkluft am Steuer sitzen.

„Vorsicht, da kommt er wieder!” ruft der Freund aus und versucht gleichzeitig beim Aufspringen die Kaffeefontaine wieder im Becher aufzufangen. Ich hechte hinterher und blicke dem ausgewichenen Gefährt nach. „Hm, ein Split”, analysiere ich die aufgefächerte Formation der verbliebenen Mitspieler. „Machbar” grummelt der Freund von der Seite und wischt sich ein paar Kaffeetropfen vom Handgelenk. Bahnhofstreffen in der Sommersaison sind sportlicher als zu anderen Jahreszeiten. Eine überraschende Spielunterbrechung riss uns raus, der Spielleiter musste ans Telefon.

Wenn wir nicht unsere Reaktionen testen, dann sitzen wir versonnen zusammen. Seit vielen Jahren treffen wir uns morgens am Bahnhof, alle ein bis zwei Wochen. Es ging etwa Ende der Neunziger los. Morgendliches Schwimmen war angesagt, etwas für sich tun und für ein positives Gefühl zwischen dem Verlassen des Hauses und dem Betreten des Arbeitsplatzes zu sorgen war der Plan. Der Freund hatte zwar Spaß dran, hielt es im Gegensatz zu mir aber nicht so lange durch. Es kam im Laufe der Jahre immer wieder vor, dass wir am gleichen Ort lebten oder  arbeiteten. Wir verpassten uns quasi morgens und abends auf werktäglicher Basis. Die Abende und Wochenenden waren häufig verplant, uns fehlte der Austausch.

Er grinste mich zunächst leicht schief an, als ich vorschlug die morgendlichen Schwimmtreffen wieder aufleben zu lassen, aber das Schwimmen dabei auf unbestimmte Zeit ruhen zu lassen. Seien wir ehrlich: Der Überfülle des abendlichen Terminkalenders steht eine glanzvolle Leere des Morgengrauens gegenüber. Seit gut acht Jahren sind die Hauptbahnhöfe unserer Städte zu beliebten Kommunikationsportalen geworden, es ist unsere Methode der Stadtverschönerung.

Wir reden über die großen und kleinen Themen des Lebens und zuweilen auch des Sterbens. Filme, Menschen, eigene Befindlichkeiten und Fragestellungen finden ihren Platz. Der Hass auf die Zicken des Handys finden ebenso Gehör, wie fiese Finten des Chefs, Urlaubspläne und -erlebnisse und anderen Hinterhältigkeiten des Lebens. Bei einer Heißgetränkerunde konnte ich mit bebender Stimme von meinen kurz zuvor durchgestandenen nervlichen Zusammenbrüchen erzählen, bei denen mich die Frau meines Lebens nur mühsam wieder aufrichten konnte. Sorgenvolle Blicke durchdrangen mich, wie kurz darauf die Anrufe seiner Liebsten, die auch mir eine gute Freundin ist.

Wir phantasieren albern gackernd herum und philosophieren eine andere Welt herbei und markieren die Abgründe der Politik. Oft trinken wir dumpf unsere Koffeinrationen, blicken raus und uns vertraut an. Zuweilen sprechen wir auch über unser frühmorgendliches Konstrukt. „Weisst Du” sagte ich ihm mal „unsere Treffen sind für mich eine Vorveredelung des Tages. Was danach kommt wird dadurch automatisch besser und ich gehe in einer gehobeneren Stimmung in den Tag.” „Ach, das ist schön” sagte er und wir blicken lächelnd in den beginnenden Tag.

8 Antworten auf „Vorveredelung des Tages

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  1. Vorveredelung des Tages gefällt mir. Das sollte man tatsächlich öfter machen. Oder man versucht sich in eure Nähe zu setzen und die Veredelung still und heimlich zu beobachten. Es klingt nämlich klasse. Und wenn es dann doch nicht so schön ist zu beobachten, dann liest man eben noch mal den Text. Der ist nämlich zweifellos ganz große Klasse!

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    1. Oh, tausend Dank, das freut mich wirklich sehr. Was mich wirklich an diesen Treffen fasziniert, ist – abgesehen von der Rumgurkerei in aller Herrgottsfrühe- dass es ungeahnte Nischen gibt, die man sich nur erobern muss.

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      1. Das hat mir auch gefallen. Warum immer abends treffen, wenn man mit der richtigen Person schon morgens gut in den Tag starten kann. Außerdem hat die Stimmung am Morgen einen ganz anderen Charme. Sollte ich mal ausprobieren.

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  2. Ich finde den Gedanken, den du da einfängst sehr schön. Eine Art und Weise ein bisschen Positivität in die Abgründe des grauen Alltags zu bringen… Gefällt :)

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